Bereits letzte Woche veröffentlichten wir einen Beitrag (→ Thirteen Reasons Why – Erhöhtes Suizidrisiko durch Serie?) zur Serie “Tote Mädchen lügen nicht” und dem in der Kommunikationswissenschaft häufig diskutierten Werther-Effekt. Sebastian Scherr beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit dieser Thematik. Wir haben ihn deswegen speziell zur Serie befragt.
Sebastian Scherr (Dr. phil, LMU München) ist Assistenzprofessor an der School for Mass Communication Research, KU Leuven, Belgien. Er forscht zu differentiellen Medienwirkungen, in den Bereichen Gesundheitskommunikation und politischer Kommunikation, mit besonderem Fokus auf Zusammenhänge zwischen Medien und Suizidalität. Im Jahr 2016 veröffentlichte er im Springer Verlag das Buch „Depression – Medien – Suizid“ (Link).
KOMMPAKT: Es wird immer wieder diskutiert, ob die Medienberichterstattung über Suizide bzw. die fiktionale Darstellung von Suiziden zu Nachahmungstaten führen kann. Mit der Serie “Tote Mädchen Lügen nicht” (engl. Thirteen Reasons Why) ist die Debatte über solche potenziellen Medienwirkungen erneut in den Fokus von Medien und Kritikern gerückt. In der Kommunikationswissenschaft ist dieses Phänomen schon länger unter dem Begriff “Werther-Effekt” bekannt. Was genau versteht man darunter?
Dr. Sebastian Scherr: Damit ist der Zusammenhang zwischen prominent in den Medien platzierten Suizidberichten und einem Anstieg der Suizidrate gemeint, der bereits vor 44 Jahren zuerst vom Soziologen David Phillips veröffentlicht wurde1. Es handelt sich also um einen Zusammenhang im Aggregat, der sich erstmal nicht ohne weiteres auf einzelne Menschen übertragen lässt. Es gab dann 2010 von Kollegen aus Österreich die umgekehrte Beobachtung, dass bestimmte Medienberichte die Suizidrate reduzieren können.2 Das wurde in Anlehnung an die Zauberflöte „Papageno-Effekt“ genannt. Suiziddarstellungen in den Medien können also zusätzliche Suizide bewirken, diese aber auch verhindern. Aus Sicht der Suizidprävention gibt es also im Grunde genommen im Extremfall schädliche oder hilfreiche Suizidberichte, und dazwischen ein Spektrum individuell unterschiedlicher Effekte, die man vor allem dann scharf sieht, wenn man sich eine differenzierende Medienwirkungsbrille aufsetzt.3 Das wurde allerdings erst später systematisch angegangen.
Wichtig ist festzuhalten, dass Medien eine wichtige Rolle für Suizide spielen, das hat auch die WHO hervorgehoben.4 5
Für mich steht es außer Frage, dass es hier Medienwirkungen gibt, interessanter ist für mich die Frage unter welchen Bedingungen diese Medienwirkungen lebensgefährlich oder lebensrettend sein können, und für wen speziell.
Sie haben sich in Ihrer Forschung mehrfach mit diesem Phänomen auseinandergesetzt. Was sind die Schwierigkeiten bei der empirischen Überprüfung des Werther-Effekts? Wie begegnet man diesen Herausforderungen in der Forschung?
Die Hauptschwierigkeit ist sicherlich die Sensibilität der Thematik. Das hängt wiederum mit der Stigmatisierung von Suiziden und Suizidmythen zusammen, die sich nach wie vor, auch in wissenschaftlichen Ethikkommissionen finden. Zum Beispiel besteht die Sorge, dass man suizidgefährdete Menschen durch Nachfragen erst zum Suizid bewegt. Das stimmt nicht. Menschen in suizidalen Krisen sind häufig zwischen Leben und Tod hin-und hergerissen. Wenn man das Gefühl hat, jemand befindet sich in so einer fundamentalen Krise, sollte man diese Person am besten ansprechen und fragen wie es ihm/ihr geht? Für mich als Forscher besteht dann eine Herausforderung darin, Ethikkommissionen zu erklären, dass Fragen zu Suizidgedanken diese nicht erst auslösen, sondern im Gegenteil sogar dazu beitragen können, dass sich Menschen anderen gegenüber öffnen, sich Hilfe suchen – am besten gibt man diese Informationen dann gleich mit dazu, also wo man Hilfe finden kann. Daher, nachdem das Interview hier auch vielleicht Menschen in einer Krisensituation lesen, ist das in Deutschland z.B. die Telefonseelsorge (0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222) oder im Internet unter www.telefonseelsorge.de, bzw. das Kinder und Jugendtelefon der ‘Nummer gegen Kummer’: 11 6 111 oder Onlineberatung unter www.nummergegenkummer.de.
Suizide sind eine vermeidbare Todesursache, bei der Medien eine wichtige Rolle spielen. Für mich als Kommunikationswissenschaftler ist es immer wichtig die Relevanz dieses Themas zu betonen. Ein wichtiger Punkt dabei ist die Qualität der Suizidberichterstattung. Journalisten müssen sich im Klaren darüber sein, dass ihre Arbeit in diesem Bereich Konsequenzen hat. Daher müssen Journalisten auch darüber aufgeklärt werden, welche Aspekte in Suizidberichten gefährlich sind und welche Elemente wiederum suizidpräventiv sein können. Aus meiner Sicht wird diesem Aspekt bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Ich versuche daher demnächst zusammen mit Kollegen in einem größeren DFG-Forschungsprojekt der Frage nachzugehen, wie es gelingen kann, die Suizidberichterstattung so zu optimieren, dass sowohl Verlage als auch die Seite der Suizidprävention damit leben können.6
Kann man den Werther-Effekt vor diesem Hintergrund überhaupt nachweisen? Welche Faktoren begünstigen oder vermindern einen potenziellen Werther-Effekt?
Ja, insbesondere nach Suiziden von Prominenten oder Personen mit hohem Identifikationspotenzial, also Personen zu denen wir einen persönlichen Bezug herstellen können, etwa weil uns diese in bestimmten Aspekten ähnlich sind, die für einen selbst auch von Bedeutung sind. Die Evidenz dafür ist vorhanden, das zeigt eine Meta-Analysen zu dem Thema,7 in der mehrere, vergleichbare Studien gemeinsam ausgewertet wurden. In den Nachrichten sollte daher nicht an prominenter Stelle von Suiziden berichtet werden (Titelseite, Headline), außerdem sollten Suizide in den Medien nicht sensationsträchtig dargestellt werden, oder Suizidenten glorifiziert werden. Es gibt eine ganze Liste an Faktoren8, die Journalisten aber auch Blogger berücksichtigen sollten, wenn sie über Suizide berichten. Das gilt also auch für diesen Blog.
Nachahmungseffekte finden sich aber auch nach fiktionalen Serien. In Deutschland gab es in den Achtzigern eine Serie in der der Suizid eines Abiturienten dargestellt wurde. Es zeigten sich später vermehrte Suizide in derselben Altersgruppe, auch in Folge von Wiederholungen der Serie.9
Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die Serie “Thirteen Reasons Why”? Wie hoch schätzen Sie das Risiko ein, dass hier Nachahmungstaten stattfinden könnten?
Da muss man erstmal die beiden Staffeln der Serie trennen. Die erste Staffel bietet sicherlich viel Identifikationspotenzial für ganz verschiedene, potenziell vulnerable, also suizidgefährdete Personen an. Die explizite Darstellung von Hannah Baker’s Suizid am Ende ist sicherlich auch gefährlich. Die Befunde aus der Studie zu der deutschen Serie aus den 80ern sprechen für einen Werther-Effekt. Allerdings war das damals natürlich auch eine vollkommen andere Situation mit einem rein öffentlich-rechtlichen Mediensystem in den 1980ern in Deutschland, ohne Internet und ohne populäre Streaming-Dienste wie Netflix. Allerdings wird man das erst im Laufe von 2019 beurteilen können, wenn die Suizidzahlen der Forschung zugänglich sind. Diese Verzögerung ist besonders problematisch, weil im Streaming-Zeitalter, nachfolgende Staffeln schneller getaktet sind als die offiziellen Statistiken. Für mich als Forscher heißt das im Klartext: Selbst wenn ich die Vermutung hätte, dass „13 Reasons Why“ zu Nachahmungssuiziden führte, könnte ich keine, mit Daten untermauerte Warnung vor Beginn der 2. Staffel aussprechen. Zusammen mit meinem Kollegen Florian Arendt (LMU München), haben wir uns daher Gedanken dazu gemacht, wie man diese zeitliche Lücke überbrücken könnte.10 Diese Art von „Big Data“-Indikatoren für Suizidalität wird in Zukunft sicherlich noch an Bedeutung dazugewinnen.
Es gibt einige Berichte, dass junge Menschen sich in ähnlicher Weise wie die Protagonistin das Leben genommen hätten. Wie bewerten Sie solche in den Medien angeführten Einzelbeispiele? Kann man da von einer direkten Wirkung sprechen?
Das ist hochproblematisch und weiß speziell dazu leider zu wenig um hier eine fundierte Auskunft geben zu können. Das gilt sicherlich auch für manche Medienberichte, wird dort aber nicht immer so strikt befolgt.
In jedem Fall sind Suizide multikausal, also multifaktoriell bedingt. Medien spielen dabei also vielleicht eine Rolle, aber sicher nicht die einzige Rolle. Das entspricht der differentiellen Medienwirkungsperspektive, die heute dominiert.11 Dieses Verständnis sollte uns bei unserer Interpretation leiten.
Im Kontext der Serie wird ein sehr ungewöhnliches Marketing-Konzept über Instagram gefahren: Die Hauptrollen haben alle eigene Instagram-Profile und posten in ihrer Rolle. Es scheint, als wollten die Produzenten bewusst die Grenze zwischen Fiktion und Realität verwischen. Liest man nun darunter die Kommentare, sieht man einerseits, dass die Posts eine hohe Reichweite haben, andererseits aber auch, dass viele sich scheinbar stark mit dem Protagonisten identifizieren. Kann eine solche Marketing-Strategie das Risiko für Nachahmungstaten noch weiter erhöhen?
Das würde den oben genannten Mechanismus sicherlich triggern, ist aber sicher auch relevant z.B. für die Wahrnehmung sogenannter Peer-Normen, also dem Umgang anderer aus der gleichen Altersgruppe mit der Thematik. Dem müsste man sicherlich systematischer Nachgehen. Speziell in diesem Fall kann das gefährlich sein, birgt aber auch die Chance auf das Thema Suizidalität aufmerksam zu machen und aufzuzeigen, wo man Hilfe finden kann. In der Gesundheitskommunikation gibt es zahlreiche Belege dafür, dass fiktionale Narrative eine überzeugende Wirkung haben können. Aber, wie gesagt, dafür müsste man sich systematischer ansehen, was da genau gepostet wurde und welche Reichweite, dann wiederum bestimmte Reaktionen auf diese Posts haben.
Glauben Sie, dass eine solche Serie auch positive Wirkungen haben kann? Ist es vielleicht eine Möglichkeit, ein Tabu-Thema wie Suizid in die Öffentlichkeit zu bringen? Welche Vorsichtsmaßnahmen sollten Produzenten gleichzeitig treffen?
Ja, sicherlich. Nicht über Suizid zu sprechen ist sicherlich nicht die Lösung. Das ist aus meiner Sicht z.B. ein Negativpunkt der zweiten Staffel, in der gezeigt wird, dass nach Hannah Baker’s Suizid (in Staffel 1) an ihrer Schule ein Verbot verhängt wurde über den Suizid zu sprechen. Das weckt einen vollkommen falschen Eindruck davon, wie man mit dem Thema umgehen sollte. Zu zeigen, dass man Hilfe in suizidalen Krisen findet und suizidale Krisen überwinden kann, und wo speziell, das ist wichtig, und kann positive Auswirkungen haben. Ich persönlich finde das eine berichtenswerte Perspektive, die auch für das Publikum interessant ist. Es ist in Zukunft wichtig, genauer festzustellen, wie man das Thema Suizid darstellt, so dass es für Produzenten, Publikum und die Prävention von Suiziden zufriedenstellend ist.
Vielen Dank für das Interview.
Wichtig: Sollten Sie selbst Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber mit jemandem. Sie können sich rund um die Uhr, kostenlos und auf Wunsch anonym, an die Telefonseelsorge wenden (08 00/111 0 111 und 08 00/111 0 222) oder Hilfsangebote auf der Homepage http://www.telefonseelsorge.de nutzen.
Interviewer: Dr. Philipp K. Masur & Melina Weiher
Philipp ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Medienpsychologie an der Universität Hohenheim.
Melina studiert zurzeit im Master Kommunikationswissenschaft und Medienforschung an der Universität Hohenheim.
Fußnoten
- Phillips, D. P. (1974). The influence of suggestion on suicide: Substantive and theoretical implications of the Werther effect. American Sociological Review, 39, 340–354.
- Niederkrotenthaler, T., Voracek, M., Herberth, A., Till, B., Strauss, M., Etzersdorfer, E., . . . Sonneck, G. (2010). Role of media reports in completed and prevented suicide: Werther v. Papageno effects. The British Journal of Psychiatry, 197, 234–243. doi:10.1192/bjp.bp.109.074633
- Scherr, S., & Steinleitner, A. (2015). Zwischen dem Werther- und Papageno-Effekt. Nervenarzt, 86(5), 557–565. doi:10.1007/s00115-015-4260-6
- WHO. (2014). Preventing suicide: A global imperative. Retrieved from http://www.who.int/entity/mental_health/suicide-prevention/exe_summary_english.pdf?ua=1
- WHO. (2017). Preventing suicide: A resource for media professionals. Update 2017. Retrieved from http://apps.who.int/iris/bitstream/10665/258814/1/WHO-MSD-MER-17.5-eng.pdf?ua=1
- Scherr, S., Arendt, F., & Schäfer, M. (2016). Supporting reporting: On the positive effects of text- and video-based awareness material on responsible journalistic suicide news writing. Archives of Suicide Research, 21(4), 646–658. doi:10.1080/13811118.2016.1222975
- Niederkrotenthaler, T., Fu, K.-W., Yip, P. S. F., Fong, D. Y. T., Stack, S., Cheng, Q., & Pirkis, J. E. (2012). Changes in suicide rates following media reports on celebrity suicide: A meta-analysis. Journal of Epidemiology and Community Health, 66(11), 1037–1042. doi:10.1136/jech-2011-200707
- z. B. unter: http://reportingonsuicide.org/recommendations/
- Schmidtke, A., & Häfner, H. (1988). The Werther effect after television films: New evidence for an old hypothesis. Psychological Medicine, 18(3), 665–676. doi:10.1017/S0033291700008345
- Arendt, F., & Scherr, S. (2016). Optimizing Online Suicide Prevention: A Search Engine-Based Tailored Approach. Health Communication, 32(11), 1403–1408. doi:10.1080/10410236.2016.1224451
- Valkenburg, P. M., & Peter, J. (2013). The differential susceptibility to media effects model. Journal of Communication, 63(2), 221–243. doi:10.1111/jcom.12024