Ein Sonntagnachmittag. Es regnet. Ich sitze auf dem Sofa, neben mir liegen eine Fernbedienung und ein Buch. Ich zögere kurz und greife dann doch zur Fernbedienung. Nicht, dass ich keine Romane mag, doch trotzdem kann ich mich oftmals dem Sog der TV-Serien nicht entziehen. Damit bin allerdings wohl kaum ein Einzelfall. Allein ein Blick in die U-Bahnen zeigt: Kaum einer liest noch, alle starren auf ihre Smartphones und sehen sich Videos, Filme und Serien an. Vorbei also die Zeit der Bücher? Manch einer spricht bereits von einem kulturellen Wandel, singt einen Abgesang auf die Bücher. Scheinbar können diese immer weniger Leser locken, wohingegen TV-Serien und Streamingdienste zu Zuschauermagneten avancieren. Ersetzen oder verdrängen sie also unsere Schmöker?
Die Buchbranche ist solche Abgesangsmelodien bereits gewohnt. Sie kämpft seit einigen Jahren mit rückläufigen Absatzzahlen, vor allem im Bereich der Belletristik. Anfang dieses Jahres veröffentlichte der Börsenverein des Deutschen Buchhandels Zahlen, welche die Debatte um eine Buchkrise weiter entfachten.1 Der Langzeitstudie nach, die das beauftragte Markforschungsunternehmen GfK durchführte, gingen in den Jahren 2012 bis 2016 rund sechs Millionen Buchkäufer verloren. Statt wie zu Beginn der untersuchten Zeitspanne kauften nicht mehr 54 Prozent der Deutschen, sondern nur noch 45 Prozent der Bevölkerung Bücher. Doch obwohl immer weniger Menschen Bücher kaufen, sanken die Gesamtabsatzzahlen nur geringfügig. So wurden 2012 noch 380 Millionen Bücher verkauft und vier Jahre später immerhin noch 377 Millionen. Es scheint, dass weniger Menschen mehr und teurere Bücher gekauft haben.
Der Studie zufolge liest die Bevölkerung auch seltener. Vor fünf Jahren gaben 38 Prozent der Befragten an, täglich oder mehrmals wöchentlich in einem Buch zu lesen. Letztes Jahr waren es dagegen nur noch 32 Prozent. Als Grund für diese Veränderungen sehen die Verlage nicht nur die Buchkonkurrenz untereinander, sondern auch die steigende Popularität von Streamingdiensten wie Netfilx, Amazon oder Maxdome.2
Eine Folge des Serienhypes?
In den letzten Jahren war die liebste Freizeitbeschäftigung der Deutschen stets das Fernsehen. Erst weit abgeschlagen folgt das Lesen von Büchern. Die Langzeitstudie Massenkommunikation, welche eine der bekanntesten Studien im Bereich der Mediennutzungsforschung darstellt, wird alle fünf Jahre von ARD und ZDF durchgeführt. Studienergebnisse aus dem Jahr 2013 zeigen beispielsweise, dass der Durchschnittsbürger ab 14 Jahren täglich 208 Minuten fernsieht und nur 19 Minuten in einem Buch liest.3
Aber nicht nur das Fernsehen ist ein beliebtes Unterhaltungsmedium. Auch die neu aufkommenden Streamingdienste wie Netflix, Amazon Prime oder Maxdome haben rasant ansteigende Nutzerzahlen zu verzeichnen. Im Jahr 2017 nutzen bereits 38 Prozent der deutschen Bevölkerung ab 14 Jahren Streamingsdienste.4 Bei den 14-29-Jährigen sind es sogar 68 Prozent, die Streamingdienste nutzen, um sich Filme und Serien anzusehen.

Bleibt also keine Zeit mehr zum Lesen bei dem vielen TV-Film- und Serienkonsum? Die kommunikationswissenschaftliche Forschung beschäftigt sich schon länger mit der Frage, inwiefern neue Medien (insbesondere Online-Medien) traditionelle Medien ersetzen. Dabei wird auch der Frage nachgegangen, inwiefern die steigende Nutzung von Online-Diensten zu weniger Offline-Aktivitäten führt. Diese Forschung versammelt sich unter dem Begriff der Verdrängungshypothese (engl. displacement hypothesis).
Ersetzen neue Medien die Alten?
Diese sogenannte “Displacement-Hypothesis” nimmt an, dass neue Medien die alten Medien mit der Zeit ersetzen.5 Die Zeit, in welcher Menschen Medien nutzen ist begrenzt. Nutzen sie also vermehrt ein neues Medium, kann davon ausgegangen werden, dass sie somit andere, alte weniger nutzen. Dadurch können Medien ganz ersetzt werden oder in Nischen enden. Viele Studien zum Thema Displacement untersuchten die Auswirkungen des Internets auf das Kommunikationsverhalten der Menschen. Ein amerikanisches Forscherteam der Universität in Pittsburgh beobachtete 1998 im Rahmen einer sehr bekannt gewordenen Langzeitstudie 76 Haushalte und stellte fest, dass die Menschen, die häufig das Internet als Kommunikationsmittel benutzten, weniger mit ihren Familienmitgliedern sprachen.6 Daraus schlossen sie, dass Online-Kommunikation die Offline-Kommunikation ersetzen beziehungsweise minimieren kann. Einige Jahre später aber konnte dasselbe Forscherteam den Effekt nicht mehr erneut nachweisen7.
Auch Dienlin, Masur und Trepte8 fanden 2017 in einer repräsentativen Umfrage in der deutschen Bevölkerung keinen Beweis für die Verdrängungshypothese. In ihrer Studie verstärkte sich die Häufigkeit der Kommunikation in Offline und Online-Kontexten gegenseitig. D.h. Menschen die häufiger online kommunizieren, tun dies dann auch häufiger offline (und umgekehrt).
Online-Kommunikation besteht ursprünglich häufig aus dem Schreiben von E-Mails. Forscher der Ohio State University fanden im Jahr 2000 in einer Studie heraus, dass 84 Prozent der von ihnen befragten Personen statt zu telefonieren lieber Mails schreiben.9 Sechs Jahre später fand der Wissenschaftler Andrew Flangain dann allerdings, dass Instant-Messenger-Dienste bei Studenten E-Mails zumindest in der interpersonalen Kommunikation (also in der privaten Kommunikation) ersetzen.10 Durch das Aufkommen von neuen Medien oder durch veränderte Mediennutzung können also zumindest alte Medien tatsächlich ersetzt werden. Dennoch sind die Befunde nicht immer eindeutig. Manche Studien unterstützen die These, dass neue Medien alte ersetzen, andere hingegen können das so nicht bestätigen.
Ersetzen oder ergänzen Serien Bücher?
Der Displacement-Hypothese nach kann das Fernsehen andere Medien verdrängen. Studien haben nachgewiesen, dass ein erhöhter Fernsehkonsum zur Verdrängung der Leseaktivität führt und auch die Lesefähigkeit insgesamt abnimmt.11 Vor allem in den 80er Jahren beschäftigte sich die Mediennutzungsforschung mit der Frage, ob das Fernsehen andere Medien ersetzen könnte. 1982 führte ein amerikanisches Forscherteam eine Studie mit Kindern durch und kam zu dem Ergebnis, dass der Fernsehkonsum zu einer qualitativen sowie quantitativen Verdrängung des Lesens bei Kindern führen kann.12 Zur quantitativen Verdrängung kommt es demnach, wenn Kinder mehr als zehn Stunden pro Woche fernsehen, denn dann kommen sie kaum oder gar nicht mehr zum Lesetraining. Zur qualitativen Verdrängung kommt es, weil Vielseher häufig nur noch Comics oder einfachen Lesestoff konsumieren. Spätere Studien konnten diesen Effekt jedoch nicht so eindeutig replizieren.
Dennoch weisen auch heute noch viele Studien meist negative Zusammenhänge zwischen dem Fernseh- und dem Bücherkonsum auf. Die zeitliche Entwicklung zeigt: Es wird immer mehr ferngesehen und immer weniger gelesen. Auch nimmt das Fernsehen einen ganz anderen Stellenwert ein. In der KIM-Studie (durchgeführt vom Medienpädagogischen Forschungsverband Südwest) wurden 6- bis 13-Jährige gefragt, auf welches Medium sie am wenigsten verzichten könnten.13 61 Prozent gaben tatsächlich an, nicht auf das Fernsehen verzichten zu können. Auf Bücher wollten dagegen lediglich sechs Prozent nicht verzichten. Das Fernsehen übt also bereits auf junge Menschen einen sehr starken Sog aus. Bücher scheinen dies weniger stark zu tun. Diese Entwicklungen lassen zumindest vermuten, dass das Fernsehen und insbesondere Serien das Bücherlesen verdrängen könnten.

Eine These die allerdings gegen die Ersetzungshypothese spricht, stammt von dem Altphilologen und Journalisten Wolfgang Riepel. Dieser formulierte 1913 das nach ihm benannte Riepl’sche Gesetz:14 Dieses besagt, dass neue Medien alte nicht völlig verdrängen können. Letztere würden immer in Nischen weiterexistieren. Ein Beispiel für dieses Phänomen ist, dass Vinyl-Schallplatten und Kassetten bei der Einführung der CD das Aus vorhergesagt wurde, sich heute aber wieder stärkerer Beliebtheit erfreuen. Der Medien-Nischen-Theorie von Dimmick und Rothentaler zufolge werden Medien nur dann ersetzt, wenn sie sich in ihrer Funktionalität besonders stark überschneiden, also wenn ein Medium in der Nutzungsweise das alte überflüssig macht.15
Abgesangsmelodien: Ein altes Phänomen?
Ist die Diskussion um den Abgesang der Bücher dann einfach aus einer nostalgischen Haltung heraus geboren? Glauben wir vielleicht einfach, dass früher alles besser war? Kritik an neuen, aufkommenden Medien gab es schon immer: Bereits in der Antike klagte Platon darüber, dass die Schrift das Nachdenken und die mündliche Sprache ersetzen werde und dies fatale Folgen haben werde in Bezug auf unsere Denkfähigkeiten.16 Die Sorge etwas Altbekanntes könnte von etwas Neuem verdrängt werden, schürt schon immer Skepsis und in Teilen auch Ablehnung. Der Schriftsteller Douglas Adams wirft in seiner Science-Fiction-Reihe „Per Anhalter durch die Galaxie“ ebenfalls die Frage der Adaptionsfähigkeit auf: „Alles, was vor unserer Geburt an Technik da ist, wird als gegeben hingenommen. Alles, was zwischen unserem 15. und 35. Lebensjahr auftaucht, ist ungemein spannend. Alles, was danach auftaucht, ist des Teufels.“17
Vor allem die Bücher wurden oftmals am Abgrund gesehen, wie der Verleger Samuel Fischer bereits 1926 beklagte: “Das Buch gehört augenblicklich zu den entbehrlichsten Gegenständen des täglichen Lebens. Man treibt Sport, man tanzt, man verbringt die Abende am Radio oder im Kino.”18 Aber Bücher sind noch immer existent. Als Konkurrent sieht man weniger das Kino oder das Radio, sondern TV-Serien, mit denen Menschen heute einfach enorm viel Zeit verbringen. Übrigens: Nach drei Stunden habe ich an jenem Sonntagnachmittag die Fernbedienung wieder beiseite gelegt. Ich bin gespannt, zu was ich an einem regnerischen Sonntagnachmittag in einigen Jahrzehnten greifen werde. Zur Fernbedienung? Zum Buch? Oder vielleicht sogar zu einem völlig neuen Medium?
Autorin: Angela Wistuba
Angela studiert derzeit im 2. Fachsemester an der Universität Hohenheim den Masterstudiengang Kommunikationswissenschaft und Medienforschung.
Fußnoten
- Roesler-Graichen, M. (18.Januar 2018). Der Buchmarkt verliert vor allem jüngere Käufer. Börsenblatt.net. Abgerufen von https://www.boersenblatt.net/artikelstudie_des_boersenvereins.1422566.html
- Freund, N. (19. Januar 2018). Ruhe bewahren. Süddeutsche Zeitung. Abgerufen von http://www.sueddeutsche.de/kultur/buchmarkt-ruhe-bewahren-1.3832750
- Engel, B. & Breunig, C. (2015). Massenkommunikation 2015: Mediennutzung im Intermediavergleich. Ergebnisse der ARD/ZDF-Langzeitstudie. Media Perspektiven, Heft 7-8. Abgerufen von http://www.ard-werbung.de/mediaperspektiven/fachzeitschrift/2015/artikel/massenkommunikation-2015-mediennutzung-im-intermediavergleich/
- Kupferschmitt, T. (2017). Ergebnisse der ARD/ZDF-Onlinestudie 2017 Onlinevideo: Gesamt-reichweite stagniert, aber Streamingdienste punkten mit Fiction bei Jüngeren. Media Perspektiven. Heft 9/2017. Abgerufen von http://www.ard-werbung.de/fileadmin/user_upload/media-perspektiven/pdf/2017/917_Kupferschmitt.pdf
- Newell, J., Pilotta, J. & Thomas, J. (2008). Mass Media Displacement and Saturation. International Journal on Media Management.10:4, S.131-138, DOI: 10.1080/14241270802426600
- Kraut, R., Patterson, M., Lundmark, V., Kiesler, S., Mukophadhyay, T., & Scherlis, W. (1998). Internet paradox: A social technology that reduces social involvement and psychological well-being? American Psychologist, 53(9), 1017-1031. Abgerufen von http://dx.doi.org/10.1037/0003-066X.53.9.1017
- Kraut, R., Kiesler, S., Boneva, B., Cummings, J., Helgeson, V. & Crawford, A. (2002). Internet paradox revisited. Journal of social issues. Volume 58, S.49- 74. Abgerufen von https://spssi.onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/1540-4560.00248
- Dienlin, T., Masur, P. K. & Trepte, S. (2017). Displacement or reinforcement? The reciprocity of FtF, IM, and SNS communication and their effects on loneliness and life satisfaction. Journal of Computer-Mediated Communication, 22(2), 71-87. Abgerufen von https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/jcc4.12183
- Dimmick, J., Kline, S., Stafford, L. (2000). The Gratification Niches of Personal E-mail and the Telephone. Communication Research. 27(2):227-248. Abergufen von https://www.researchgate.net/publication/249683223_The_Gratification_Niches_of_Personal_E-mail_and_the_Telephone
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- Universität Leipzig. Medienpsychologie : Begriffsbestimmungen. Abgerufen von http://uni.carlo-michaelis.de/doku.php/uni-leipzig:psychologie:module:paedagogisch2:4
- Böhme-Dürr, K. (1990). Wissensveränderung durch Medien: Theoretische Grundlage und empirische Analysen. De Gruyter: München. S. 229.
- KIM-Studie 2014. Basisuntersuchung zum Medienumgang 6- bis 13-Jähriger in Deutschland, Medienpädagogischer Forschungsverband Südwest. S.18. Abgerufen von http://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/KIM/2014/KIM_Studie_2014.pdf
- Bundeszentrale für politische Bildung. Glossar: Riepl’sches Gesetz. Abgerufen von http://www.bpb.de/gesellschaft/medien-und-sport/medienpolitik/171586/glossar?p=65
- Dimmick, J., & Rothenbuhler, E. (1984). The theory of the niche: Quantifying competition among media industries. Journal of Communication, 34(1), 103–119.Abgerufen von https://academic.oup.com/joc/article-abstract/34/1/103/4282797?redirectedFrom=fulltext
- Platon. Phaidros Dialog. S. 475. Abgerufen von http://www.zeno.org/Philosophie/M/Platon/Phaidros
- Rehn, D. (13.März 2014). So wahr: Douglas Adams über unsere Adaptionsfähigkeit von Technik. Blog Digitales & Reales. Abgerufen von https://danielrehn.wordpress.com/2014/03/13/so-wahr-douglas-adams-uber-unsere-adaptionsfahigkeit-von-technik/
- Wolters, D. (16. Januar 2018). Lesen wir bald keine Bücher mehr? Frankfurter Neue Presse. Abgerufen von http://www.fnp.de/nachrichten/kultur/Lesen-wir-bald-keine-Buecher-mehr;art679,2880230